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Nachhaltige Ernährung als zentrale Herausforderung

Prof. Dr. Renner vom Fachbereich Psychologie der Universität Konstanz hat federführend an einem Gutachten zur Politik für nachhaltige Ernährung mitgeschrieben – Übergabe am 21. August 2020 an Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft Julia Klöckner

Der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz (WBAE) hat heute sein Gutachten „Politik für eine nachhaltigere Ernährung: Eine integrierte Ernährungspolitik entwickeln und faire Ernährungsumgebungen gestalten“ der Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft Julia Klöckner übergeben. Darin weist der WBAE auf die Dringlichkeit einer Transformation des Ernährungssystems hin. Diese sei zentrale Voraussetzung, um die Gesundheit der Menschen, Umwelt und Klima zu schützen, Ernährungsarmut zurückzudrängen, soziale Mindeststandards einzuhalten und das Tierwohl zu erhöhen. Von der Ernährungspolitik werden tiefgreifende Maßnahmen gefordert, um den notwendigen Wandel voranzubringen. Das interdisziplinär erstellte Gutachten legt entscheidendes Gewicht auf die sogenannte Ernährungsumgebung. Es entstand unter Federführung der stellvertretenden Vorsitzenden des WBAE Prof. Dr. Britta Renner, Professorin für Psychologische Diagnostik und Gesundheitspsychologie an der Universität Konstanz, Prof. Dr. Achim Spiller, Professor für Marketing für Lebensmittel und Agrarprodukte an der Universität Göttingen, und Dr. Lieske Voget-Kleschin von der Philosophischen Fakultät der Universität Kiel.

Die „Big Four“
Die individuelle Ernährung beeinflusst wesentlich Gesundheit, Lebensqualität und das Wohlbefinden der Menschen. Viele Verbraucherinnen und Verbraucher möchten sich gesünder und umweltverträglicher ernähren, sind damit aber oft in der Umsetzung überfordert. Sie sehen sich mit einer unzureichenden, teils widersprüchlichen Informationslage, begrenzten Wahlmöglichkeiten und einer wenig unterstützenden Ernährungsumgebung konfrontiert. Was macht aber eine nachhaltige Ernährung aus? Der WBAE definiert vier Zieldimensionen nachhaltiger Ernährung, die sogenannten „Big Four“: Gesundheit, Soziales, Umwelt (einschließlich Klima) sowie Tierwohl. Eine nachhaltige Ernährung wirkt – nach Definition des WBAE – positiv auf alle der vier genannten Dimensionen. Prof. Dr. Harald Grethe, Vorsitzender des Beirats, betont: „Um unsere Nachhaltigkeitsziele zu erreichen, brauchen wir eine umfassende Transformation des Ernährungssystems. Die gegenwärtige Gestaltung unserer Ernährungsumgebungen macht es Konsumenten und Konsumentinnen sehr schwer, sich nachhaltiger zu ernähren“.

Die bestehenden Rahmenbedingungen sind laut Gutachten in Deutschland momentan ungeeignet, eine nachhaltigere Ernährung für die breite Bevölkerung zu realisieren. Das Gutachten spricht davon, dass die deutsche Ernährungspolitik die Verantwortung für eine nachhaltige Ernährung zu stark individualisiert. Dabei werde der Einfluss von Ernährungsumgebungen seitens der öffentlichen und politischen Diskussion unterschätzt, die individuelle Handlungskontrolle dagegen überschätzt.

Die Rolle unbewusster Einflüsse
Die Konstanzer Psychologin Britta Renner sagt: „Um nachhaltigere Ernährungsentscheidungen in der Breite der Bevölkerung und im Alltag zu ermöglichen, benötigen wir einen fairen Rahmen in Form von verständlichen Informationen, einem einfacheren Zugang, mehr Wahlmöglichkeiten und Preisanreizen, die die nachhaltigere Wahl attraktiver machen.“ Und: „Das Gutachten zeigt, dass unser Ernährungsverhalten oft das Ergebnis von uns in dem Moment nicht bewussten Einflüssen ist, die durch unsere Ernährungsumgebung geprägt werden. Der Einfluss der Ernährungsumgebung ist damit sehr weitreichend und wirkt nicht nur in der Phase des Konsums, sondern bereits durch die Exposition, den Zugang und im Rahmen der Auswahl von Lebensmitteln“, so Renner weiter.

Viele verfügbare Unterstützungsinstrumente bleiben nach Auffassung des Gutachtens bislang ungenutzt. Deutschland ist, wie das WBAE-Gutachten aufzeigt, in dieser Hinsicht im europäischen Vergleich Nachzügler. Zentraler Ansatz hin zu einer fairen Ernährungsumgebung und breiten nachhaltigen Ernährung ist laut Empfehlung des Wissenschaftlichen Beirats eine qualitativ hochwertige und beitragsfreie Kita- und Schulverpflegung.

Nachhaltige Ernährung muss für alle erschwinglich sein
Um langfristig eine nachhaltigere Ernährung für die gesamte Bevölkerung zu ermöglichen, gelte es, Faktoren zu reduzieren, die eine nachhaltige Ernährung erschweren wie etwa große Portionsgrößen oder die offensive Bewerbung klar ungesunder Lebensmittel. Demgegenüber sei es außerdem notwendig, das Angebot gesundheitsfördernder, sozial-, umwelt- und tierwohlverträglicher Produkte deutlich auszubauen, um so den Verbraucherinnen und Verbrauchern bessere Wahlmöglichkeiten zu bieten. Diese müssen, so die Empfehlung, durch eine transparente Ausweisung nachhaltiger Produkte wie auch Preisanreize begleitet werden – eine nachhaltige Ernährung muss für alle erschwinglich sein und darf nicht einzelne Bevölkerungsgruppen ausschließen.

Der WBAE empfiehlt eine umfassende Neuausrichtung und Stärkung des Politikfeldes Ernährung, das die vier Nachhaltigkeitsdimensionen Gesundheit, Soziales, Umwelt, und Tierwohl integriert. Hierzu ist unter anderem eine deutlich stärkere Vernetzung zwischen einzelnen Politik-Ressorts, insbesondere Ernährung und Landwirtschaft, Gesundheit und Umwelt, aber auch zwischen Politikebenen von der Kommune bis hin zur EU erforderlich. Auch personelle Ressourcen müssten in diesem Bereich ausgebaut werden.

Gesamtgesellschaftlich gebotene Investition
Das Gutachten kommt zum Fazit: Die Realisierung der empfohlenen Maßnahmen würde erhebliche staatliche Mehrausgaben erfordern. Im Verhältnis zu den erwartbaren hohen gesellschaftlichen und individuellen Folgekosten der gegenwärtigen Ernährung würden diese Ausgaben allerdings eine gesamtgesellschaftlich gebotene Investition darstellen.

Der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz (WBAE) ist interdisziplinär besetzt und unterstützt das Ministerium bei der Entwicklung seiner Politik in diesen Bereichen. Das Gremium arbeitet unabhängig und erstellt auf ehrenamtlicher Basis Gutachten und Stellungnahmen zu selbst gewählten Themen.

Faktenübersicht:

  • Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz (WBAE) übergab am heutigen 21. August 2020 sein Gutachten „Politik für eine nachhaltigere Ernährung: Eine integrierte Ernährungspolitik entwickeln und faire Ernährungsumgebungen gestalten“ der Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft Julia Klöckner
  • Gutachten wurde erstellt unter federführender Mitwirkung der stellvertretenden Vorsitzenden des WBAE Prof. Dr. Britta Renner, Professorin für Psychologische Diagnostik und Gesundheitspsychologie an der Universität
  • Gutachten betont die Dringlichkeit einer Transformation des deutschen Ernährungssystems und legt entscheidendes Gewicht auf die Ernährungsumgebung
  • Der WBAE ist interdisziplinär besetzt und unterstützt das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft bei der Entwicklung seiner Politik 
  • 8. September 2020 von 10 Uhr bis 11:30 Uhr Vorstellung des Gutachtens durch die Mitglieder des WBAE. Zur Anmeldung