Das Phänomen Normativität

Die Frage, wie Normativität und Moral verstanden und erklärt werden können – insbesondere unser Verständnis von „Richtig und Falsch“ sowie das „Sollen“ – ist von grundlegendem Interesse für die Sozialwissenschaften, die Philosophie, und zunehmend auch die Naturwissenschaften. Wie kommt es, dass Menschen denken, dass sie bestimmte Dinge tun „sollten“ (wie zum Beispiel Schlange stehen an der Supermarktkasse oder Gebrauch und Akzeptanz von Euro als Währung in manchen Ländern)? Im Grunde leben wir doch in einem kausalen Universum voller physikalischer Gesetze und deskriptiver Fakten (zum Beispiel, dass der Mensch nicht fliegen, wohl aber aufrecht gehen kann)?

Nichtsdestotrotz besitzen und hängen alle menschlichen Gesellschaften von sozialen Normen und Regeln ab, die bestimmte Handlungen unter bestimmten Umständen vorschreiben oder verbieten. Und auf den ersten Blick ist dies ein eigenartiges Phänomen, bedenkt man, dass durch die Entwicklung von normativen Einstellungen und dem Befolgen von Normen Menschen ihren Handlungs- und Denkspielraum einschränken, sei es freiwillig oder durch andere Prozesse. Grundsätzlich sind Normen wie ein „sozialer Kitt“, der Mitglieder einer Gruppe zusammenbringt und mithin Gruppenkohäsion, Kooperation und Zusammenarbeit fördert – was wiederum essentiell, wenn nicht sogar notwendig, für den evolutionären Erfolg unserer Art gewesen sein könnte.

Wie kommt Normativität – unser Verständnis von „Richtig und Falsch“ sowie das „Sollen“ – in die Welt?

Normen wie „An der Supermarktkasse steht man Schlange!“ sind nicht in unserem genetischen Code hinterlegt – vielmehr werden solche Normen von Menschen erschaffen, weitergegeben, erlernt und durchgesetzt. Aber wie entwickeln Säuglinge und Kleinkinder ein Normverständnis? Was sind die psychologischen Grundlagen, die uns zwischen „richtig“ und „falsch“ unterscheiden lassen, das heißt, Normativität zu verstehen und zu spüren und somit komplexe moralische (kooperative) Systeme, soziale Institutionen und kulturelles Wissen zu erschaffen? Dies sind die zentralen Fragen, welche unsere Forschung antreiben.

Theoretischer Ansatz und empirische Methoden

Hinsichtlich sozial-kognitiver Grundlagen verstehen wir die menschliche Fähigkeit und Motivation, kollektive intentionale Zustände einzunehmen (zum Beispiel „Wir tun X in Kontext C!“) als grundlegend für die Ontogenese von Normativität. Wir betrachten Normativität nicht als isoliertes Phänomen, sondern als inhärent verwoben mit Theory of Mind und Epistemologie (insbesondere in Bezug auf Lernmechanismen) auf der einen Seite sowie mit Prosozialität und Interesse am Wohlergehen anderer auf der anderen Seite.

Daher widmet sich unsere Forschung drei Schwerpunkten, mit dem Ziel, Aufschluss zu geben über:

i. Breite und Tiefe des frühkindlichen Verstehens von Normativität,

ii. Mechanismen des Normerwerbs,

iii. und Wechselbeziehungen zwischen moralischer, epistemischer und prosozialer Entwicklung.

Das Ziel unserer Forschungsgruppe ist, den Grundstein für die Entwicklung eines integrativen theoretischen Rahmenwerks über menschliche Normativität inklusive Verbindungen zu Epistemologie und Prosozialität zu legen, welches weitere integrative Forschung motivieren soll.

Wir verwenden eine Reihe unterschiedlicher empirischer Methoden, zum Beispiel interaktive Aufgaben (in denen wir spontane verbale und nonverbale Handlungen von Kindern messen) sowie Eye-Tracking.